Donnerstag, 30. Oktober 2025

Nachgedacht: Nüchternheit, Dialektik und der Gewinn einer neuen Mitte

Als Pensionär hat man Zeit zu lesen. Ich habe mir in aller Ausführlichkeit die aktuelle Ausgabe vom Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt zu Gemüte geführt. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Aufsätzen von Mareile Lasogga und Eberhard Martin Pausch habe ich versucht, mir einige Gedanken zum Reformationstag zu machen. Wie lässt sich die Wichtigkeit der Feier des Reformationstags für die Kirche und der Gewinn für die Menschen heute begründen? Zum Schluss kommen noch einige Gedanken hinzu, die sich mit dem Aufsatz von Christoph Bergner beschäftigen. 


1. Wiederherstellung der Kritischen Vernunft (Kritische Theorie) 

Die Reformation war ein Akt des kritischen Denkens und der Mündigkeit. Martin Luther trat dem Papst und dem Kaiser entgegen und stützte sich auf die Heilige Schrift und das eigene Gewissen. Die Erinnerung an dieses Ereignis macht deutlich, dass Wahrheit nicht einfach durch Autorität oder Effizienz bestimmt wird, sondern durch kritische Auseinandersetzung mit den Quellen.

Angeregt durch den Aufsatz von Eberhard Martin Pausch habe ich mich wieder einmal etwas mit der Frankfurter Schule beschäftigt. Im Anschluss daran denke ich tatsächlich, dass die Vernunft im Laufe der Geschichte ihre ursprüngliche, emanzipatorische Funktion verloren hat. Sie fragt nicht mehr nach dem Sinn oder den gerechten Zielen (substantielle Vernunft), sondern nur noch nach dem effizientesten Mittel zur Erreichung eines Ziels (instrumentelle Vernunft). Eingesetzt als Instrument kann die Vernunft problemlos jedem beliebigen Zweck dienen, auch inhumanen. 

Die Feier des Reformationstags und die Erinnerung an Luthers Ansatz kann als Korrektiv gegen die instrumentelle Vernunft und den Zeitgeist dienen, indem sie das kritische Potenzial der Reformation und später der Aufklärung (Kants "Sapere aude!") in einem theologischen Kontext verankert. Das ermutigt Menschen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und gesellschaftlich dominante Narrative zu hinterfragen.

2. Befreiung von der Anpassung (Dialektische Theologie)

Wer sich mit der Kritischen Theorie bzw. der Dialektik der Frankfurter Schule beschäftigt, der fragt automatisch nach der Dialektischen Theologie, insbesondere, wie sie Karl Barth geprägt hat. Auch wenn sie im Lauf der Zeit an ihrer rigorosen Radikalität und der Schwierigkeit scheiterte, eine positive Beziehung zur Welt zu etablieren, so war die Dialektische Theologie einst ein notwendiges Korrektiv gegen die Anpassung der liberalen Theologie an den Zeitgeist.

Die Reformation steht historisch für die radikale Abkehr von einer Kirche, die sich zu sehr an weltliche Mächte, Ablasshandel und menschliche Werke angepasst hatte. Dies korrespondiert mit der Kritik der Dialektischen Theologie an der Kulturgebundenheit der Religion. Heute sehen wir eine theologische Landschaft, die das extreme Gegenteil darstellt: Kaum noch Widerspruch, dafür eine fast vollständige Harmonisierung mit dem Zeitgeist

Die Betonung der reformatorischen Prinzipien (Sola Scriptura, Solus Christus) stellt eine Gegenerzählung zum heutigen ökonomischen Systemzwang und der sozialen Anpassung dar. Sie vermittelt den Menschen: Der Glaube ist unabhängig von materieller Leistung oder sozialem Status. Die Wahrheit der Kirche ist transzendent und nicht verhandelbar, was eine kritische Distanz zum Zeitgeist ermöglicht. Dies ist eine Grundlage für die prophetische Funktion der Kirche (Lasogga).

3. Akzeptanz der Ambivalenz und des Chaos - aber kein Untergang

Der Reformationstag feiert die Entdeckung der Rechtfertigung allein aus Gnade (Sola Gratia, Sola Fide). Angesichts des gegenwärtig herrschenden "Chaos" und die "Macht der Negativität" (Lasogga) bietet dieser Tag eine existenzielle Orientierung: Der Mensch muss nicht durch ständige Selbstoptimierung oder Leistung versuchen, das Chaos oder das eigene Versagen zu kontrollieren. Die Gnadenlehre befreit den Menschen von der Angst und dem Perfektionsdruck, indem sie ihm seine Existenz vor Gott bedingungslos zuspricht – eine wichtige nüchterne Lebensorientierung in einer überforderten Gesellschaft.

Indem die Kirchen die biblischen Geschichten und die reformatorischen Lehren öffentlich verkünden und diskutieren, halten sie einen nicht-instrumentellen Raum offen, in dem über Sinn, Gerechtigkeit und das Absolute gesprochen werden kann – ein notwendiger Gegenpol zur rein funktionalen Sprache von Markt und Politik. Die gemeinsame Feier stiftet Gemeinschaft und Anerkennung außerhalb von Leistungszwängen.

4. Begegnung vor Ort - gegen den Systemzwang in der Kirche

Wenn es um die Feier des Reformationstags und den Gewinn dieser Feier für die Menschen heute geht, dann muss noch gefragt werden, in welchem kirchlichen Rahmen wir uns bewegen. Christoph Bergners Artikel - Verlust der Nähe - trifft einen wunden Punkt der gegenwärtigen evangelischen  Kirche: Die Übernahme betriebswirtschaftlicher Logiken und der Hang zur instrumentellen Vernunft im Kirchenmanagement.

Instrumentelle Vernunft in der Kirche: Bergner warnt davor, dass die Kirche, indem sie sich von wirtschaftlichen Modellen (Effizienz, Wachstum, Mitgliederzahlen) leiten lässt, genau jener instrumentellen Vernunft verfällt, die die Kritische Theorie beklagt. Der Geist (Glaube, Tradition, Tiefe) wird dem System (Zahlen, Organisation, Anpassung) geopfert.

Der "Akklamationsparlament"-Vorwurf: Der drohende Verlust der Synoden als Ort echter theologischer und kritischer Debatte zugunsten des reibungslosen Ablaufs und der Bestätigung vorgefertigter Pläne ist ein schwerwiegendes Symptom. Wenn der Diskurs in der Kirche stirbt, stirbt auch die Mündigkeit und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur.

Der Ruf nach dem Unverfügbaren: Die Kirche sollte sich auf das besinnen, was unverfügbar ist: die Gnade (Sola Gratia) und das Wort Gottes. Das lutherische Bekenntnis entlastet von der Pflicht, die Kirche durch menschliche Anstrengung produzieren zu müssen. Dies ist der einzige Weg, um aus der Angst vor dem Relevanzverlust und der damit verbundenen Anpassungsspirale auszubrechen.

Gewinn für heute: Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die reformatorische Freiheit, die sich nicht von den Zwängen des Systems unterwerfen lässt. Der Reformationstag ist jährlich die Mahnung, dass die Kirche in ihrem Kern kein Wirtschaftsunternehmen ist, sondern ein Ort der Gegenrede, der Nüchternheit und der unbedingten Gnade.

Zum Schluss

Die Krise der Kirche ist nicht nur eine Strukturkrise, sondern eine Krise der Theologie und der Vernunft. Nur wenn die evangelische Kirche den Mut findet, sich von der theologischen Auszehrung und der instrumentellen Vernunft zu befreien – also nüchtern und kritisch-rational wird – kann sie ihre Rolle als Anwalt der Wahrheit und als Stimme der Hoffnung in dieser verstörenden Zeit zurückgewinnen.

Die lutherische Kirche hat dazu alle nötigen Werkzeuge: die Gnadenlehre als Befreiung vom Leistungszwang und die Bibel als Quelle für die kritische Infragestellung aller zeitgeistlichen Autoritäten. Es ist Zeit, diese Schätze wieder mutig zu heben.

Predigt zum Reformationstag

Die letzte Predigt zu einem Reformationstag, der in Meppen seit 2017 ökumenisch begangen wird, habe ich 2021 geschrieben. Man kann die Predigt mit diesem Link aufrufen. 





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen